BERLINER MORGENPOST: Rettet die Schiedsrichter/ Ein Leitartikel von Hajo Schumacher
Berlin (ots)
Die Schuldfrage scheint geklärt: Der Schiri war's. Ob der zweifelhafte Elfer für Spanien, zwei klare, aber weggepfiffene Tore für Mexiko oder Freds Kunstflug, der einen unverdienten Strafstoß und die halbwegs gleichwertigen Kroaten im Eröffnungsspiel gegen Brasilien in Rage brachte - stets waren der Unparteiische und seine Gehilfen die Bösen. Pfeife, schwarze Sau, Blindgänger - die üblichen Pöbeleien eben, nicht edelmütig, aber erklärbar, wenn der Sieg nicht der Leistung, sondern dem Zufall zu verdanken ist. Im ersten Zorn drohte Kroatiens Trainer Kovac gar, das Turnier zu verlassen. Lieber Strand als Veräppeltwerden.
Die Kritik an den Unparteiischen ist richtig und falsch zugleich. Ja, es wurden Fehlurteile getroffen, in rekordverdächtiger Zahl. Aber: Schieds- und Linienrichter können nichts dafür. Schließen wir den Faktor böse Absicht aus, bleibt die Erkenntnis: Sie können es nicht besser. Nicht etwa, weil sie schlecht ausgebildet wären, sondern schlicht, weil der menschliche Wahrnehmungsapparat nicht in der Lage ist, binnen Zehntelsekunden hochkomplexe Konstellationen mit tückebegabten Akteuren richtig zu bewerten. Kein Mensch könnte das.
Selbst die tausend Augen der hochfeinen Kameras mit all ihren Perspektiven, Zeitlupen, Nahaufnahmen und Hilfslinien sind bisweilen überfordert. Wie also soll ein Linienrichter selbst auf Ballhöhe zuverlässig beurteilen, was im Getümmel 30 Meter entfernt geschieht, mit Passgeber, Passempfänger, diversen Verteidigern und schließlich dem Ball? Das Spiel ist einfach zu schnell geworden. Gut für die Zuschauer, nicht zu bewältigen für Rasenrichter und alle anderen Menschen. Wer Schiedsrichter kritisiert, der könnte auch Kanzleramtsminister Peter Altmaier vorwerfen, dass er keinen Van-Persie-Flugkopfball hinbekommt. Manche Sachen gehen eben nicht.
Prof. Dr. Daniel Memmert, Chef des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln, hat einen Aufmerksamkeitstest entwickelt, um zu ermitteln, wie viele Informationen ein Sportler gleichzeitig aufnehmen kann. Fazit: Es ist unmöglich, ein Abseits zuverlässig zu erkennen. Die Studienergebnisse legen nahe, dass ab einer bestimmten Komplexität die Trefferwahrscheinlichkeit bei nahezu 50/50 liegt. Die Schiedsrichter in Brasilien könnten also genauso gut eine Münze werfen.
Die Lösung: Die Fifa, modernisierungsfroh wie der Vatikan, muss schleunigst alle technischen Entscheidungshilfen prüfen - nicht um die Schiedsrichter zu entmachten, sondern im Gegenteil, um sie vor dem globalen Zorn zu schützen, der sich derzeit gegen ihren Berufsstand aufbaut. Ob die Linienkontrolle beim Tennis oder der Videobeweis, den jedes Team einmal pro Halbzeit anfordern kann - der Optionen sind einige. Die Torlinienkamera ist ein Anfang, aber ein hasenfüßiger. Rettet die Schiris, so schnell wie möglich.
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